Samstag, 14. Mai 2016

Chelseas Geschichte

Chelsea kam am 1. Mai 2015 zu uns, kurz nach Sugars Tod, um Sugars Partnerböckchen Nicky Gesellschaft zu leisten. Sie war damals etwa 3 Monate alt, ein entzückendes Kleinschweinchen – und furchtbar schnell! Wenn sie beim Freilauf durchs Zimmer flitzte, saß Nicky nur da und schaute ihr verwirrt zu. Er war scheinbar fassungslos, dass ein Meerschweinchen so schnell laufen kann – und begann erst wieder gemeinsam mit ihr zu laufen, als sie nicht mehr soooo schnell unterwegs war.
Die ersten Wochen des Zusammenlebens waren vollkommen komplikationslos und es machte viel Freude, Chelsea zu beobachten.

Dann kam die erste Hitzewelle des Sommers im Juni, gefolgt von einer Phase mit sehr kühlem, ungemütlichem Wetter. In dieser Zeit verbrachte Chelsea fast die gesamte Zeit in einem Kuschelnest. Das war einigermaßen verwunderlich. Sie fraß aber brav und nahm auch weiterhin zu, sodass ich mich zwar wunderte und sie genauer beobachtete, aber noch nicht wirklich beunruhigt war.
Das ändert sich abrupt am Abend des 21. Junis – natürlich ein Sonntag!

Ich kam am späten Nachmittag mit einer Portion Löwenzahn aus dem Garten nach Hause. Alle Schweinchen stürzten sich auf das beliebte Futter. So auch Nicky – aber Chelsea lag unter einer Ebene und schlief. Wenn meine Seniorin Ginger in der anderen Gruppe eine Futterverteilung verschlafen hat, hat mich das zwar auch nicht begeistert (aber es kam auch kaum vor, denn wenn Ginger Futter witterte, war sie normalerweise sofort (!) wach), aber bei einem Schweinchen von gerade einmal ein paar Monaten???
Als Chelsea dann endlich wach war, fraß sie aber brav, wenn auch etwas langsam. Was in Gesellschaft von Nicky immer ein Problem ist, denn Nicky ist ein Futterstaubsauger in Meerschweinchengestalt. Und natürlich ist ihm sein eigener Bauch immer am nächsten – typisch Meerschwein halt.

Als es dann wenig später den Rest der Abendfütterung gab, zeigte sich das wahre Ausmaß der Tragödie. Chelsea hatte zwar Interesse an Futter und fraß an sich auch brav, aber sie konnte keinen gerade Schritt tun, sondern torkelte nur unkoordiniert durch den Käfig. Ich holte sie also gleich einmal zu mir auf den Schoß und fütterte sie dort weiter. Das Futter nahm sie bereitwillig und es schien ihr auch angenehm zu sein, dass ich sie relativ fest hielt und so ihren Körper stützte. Was ich dabei auch bemerkte, war, dass ihre Augen zuckten. Und da gingen meine Alarmglocken erst recht los, denn diese Symptomen erinnerten mich sehr an die Symptome eines an Encephalitozoonose (kurz EC) erkrankten Kaninchens. Außerdem hielt Chelsea den Kopf schief, was ebenfalls ein Symptom von EC sein kann.

Es folgte ein hektisches Telefonieren. Zu welchem Tierarzt konnte man am Sonntag Abend mit einem Meerschweinchen, das möglicherweise schwer krank war. Nachdem einige Tierärzte mit Bereitschaft nicht erreichbar waren (eine rief mich zurück, aber da war ich dann schon unterwegs), fuhr ich zur „Notaufnahme“ der Veterinärmedizinischen Universität.
Nach einer gewissen Wartezeit kam ich zu einer jungen, sehr netten Tierärztin, die aber offensichtlich nicht sehr viel Erfahrung mit Meerschweinchen hatte. Sie beruhigte mich zunächst und meinte, dass sie eine Infektion mit Ohrmilben vermutete. Nachdem die Symptome aber auch bei einer EC auftreten konnten, auch wenn es bei Meerschweinchen eher ungewöhnlich war, gab sie uns sicherheitshalber Panacur mit. Mit den Medikamenten beladen, kehrte ich einigermaßen beruhigt nach Hause zurück.

Zunächst schien die Behandlung gut anzuschlagen. Chelsea war weiterhin gut bei Appetit, zeigt zwar noch die Kopfschiefhaltung, mal mehr, mal weniger, aber das Augenzittern hörte nach etwa zwei Tagen Behandlung komplett auf. Sie nahm auch weiter kontinuierlich zu, wie es sich für ein Schweinchen in ihrem Alter gehörte.
Doch dann wurde die Kopfschiefhaltung leider wieder stärker und sie hatte zusätzlich einen Schnupfen mit deutlichem Nasenausfluss. Also doch wieder zum Tierarzt. Diesmal wurden Chelseas Ohren einer ganz genauen Prüfung und Säuberung unterzogen – keine Spur von Ohrmilben. Dann wurde Chelsea Blut abgenommen, eine besondere Herausforderung für die Tierärztin bei einem Schweinchen von Chelseas Größe (und das Zuschauen dabei auch für uns). Chelsea bekam ein Vitamin B-Präparat und gegen den Schnupfen ein Antibiotikum verschrieben. Wir sollten zur Sicherheit weiter mit Panacur behandeln, bis das Ergebnis des Bluttests da war.

Das Ergebnis kam Mitte Juli. Der Antikörpernachweis auf den Erreger Encepahlitozoon cuniculi war in Chelseas Blut positiv. Das Ergebnis war für mich schon ein Schock, auch wenn die Ungewissheit jetzt endlich ein Ende hatte.
Das Antibiotikum schlug insofern an, als der Schnupfen deutlich besser wurde. Leider hatte es aber auch gravierende Nebenwirkungen, vielleicht verstärkt durch die neuerliche Hitzewelle. Es war jeden Tag eine Zitterpartie, ob und wie viel Chelsea fressen würde. An einem Sonntag Nachmittag fand ich sie in totaler Seitenlage mit halb geschlossenen Augen und weggestreckten Hinterbeinen im Käfig. Als sie auf das erste Ansprechen so gar nicht reagierte, dachte ich schon: „Das war’s jetzt!“.
Leider war sie insgesamt so kraftlos, dass sie nicht mehr aus dem Käfig springen konnte. Nachdem sie den Freilauf aber über alles liebt, habe ich sie am Abend immer herausgesetzt und sie auch versucht dazu zu animieren, ein bisschen zu laufen. In der Zeit waren die Koordinationsstörungen zeitweise wieder recht heftig, aber zum Glück ging es dann langsam bergauf.
Das Ende der Hitzewelle und das Ende der Antibiotika-Therapie brachten eine gewisse Erleichterung. Leider hat Chelsea in der Zeit massiv Gewicht verloren, aber der Appetit normalisierte sich langsam wieder etwas. Und die Freude war riesig, als sie wieder von selbst in den Freilauf kommen konnte. Wir hatten dann auch den ersten Behandlungszyklus mit Panacur abgeschlossen und es gab das erste Mal seit fünf Wochen keine Medikamente mehr.

Die Freude hielt allerdings nicht lange an, denn Chelsea, deren Verdauung vor der Erkrankung immer tip top gewesen war, bekam plötzlich starken Durchfall. Zum Glück sprach meine Behandlung nach zwei Tagen des Zitterns dann doch sehr gut an. Chelsea war jetzt eindeutig auf dem Weg der Besserung, war wieder viel lebhafter, begann auch wieder, schneller im Zimmer zu laufen. Die nächste Hitzewelle, die ich so gefürchtet hatte, schien ihr diesmal gar nicht zuzusetzen.

Doch damit war der letzte Schrecken des Sommers 2015 noch nicht überstanden. Es war wieder einmal ein Sonntag Abend (ich habe langsam schon eine Sonntag-Abend-Phobie entwickelt), als ich bei der Abendfütterung eine Veränderung an Chelseas Auge entdeckte. Es war eine dunkle Schwellung am unteren Augenrand. Außerdem hatte sie einen deutlichen trüben Fleck auf der Hornhaut. Mir blieb wieder einmal das Herz stehen. Was macht man mit einem Schweinchen mit Hornhautverletzung an einem Sonntag Abend? Noch dazu mit einem Schweinchen, das ohnehin unter gewissen Störungen der Koordination und einer Kopfschiefhaltung leidet? Wartet man bis Montag oder unternimmt man gleich etwas?
Der Weg führte uns wieder in die „Notaufnahme“ der Veterinärmedizinischen Universität. Das war einer der letzten Tage der längsten Hitzewelle dieses Sommers – und in der „Notaufnahme“ war der Teufel los. Einige Hunde wurden stationär aufgenommen, zumindest einem konnte leider nicht mehr geholfen werden. Nach drei Stunden Wartezeit war ich schon ganz kurz davor, mit Chelsea wieder nach Hause zu fahren und mein Glück doch am Montag bei einem anderen Tierarzt zu versuchen, als wir endlich an die Reihe kamen. Wieder eine junge bemühte Tierärztin, die aber nicht so recht schlau wurde, was sie da an Chelseas Auge tatsächlich sah. Also schnappte sie sich Chelsea und das Untersuchungsgerät und holte die Meinung ihrer erfahreneren Kollegin ein, die ebenfalls Dienst hatte.
Und sie kehrte mit einer recht dramatischen Diagnose zurück: Chelsea hatte einen Hornhautriss quer über das Auge und einen Vorfall der Iris. Es gab nur zwei Optionen, entweder das Auge gleich entfernen lassen oder einen Eingriff probieren, der bei Hunden und Katzen zwar mit gutem Erfolg angewendet wird, bei Meerschweinchen aber noch nie versucht wurde, weil bis jetzt noch kein Schweinchen so rechtzeitig an die Klinik kam, dass der Eingriff noch durchgeführt werden konnte. Der Augenchirurg, der an dem Abend nicht einmal Rufbereitschaft hatte, hatte sich bereit erklärt, sein Glück an Chelseas Auge zu versuchen und sie noch in dieser Nacht zu operieren. Natürlich gab ich mein Einverständnis und fuhr nach Hause – in der Hoffnung, dass Chelsea die Operation gut hinter sich bringen würde.
Gegen 2 Uhr morgens – kurz nachdem ich endlich eingeschlafen war, sodass ich das Handy zwar läuten hörte, aber nicht rechtzeitig genug wach war, um den Anruf entgegen zu nehmen - hörte ich die gute Nachrichten auf der Mailbox, dass Chelsea die OP gut überstanden hatte und der Eingriff zufriedenstellend verlaufen war. Ich durfte die kleine Maus am nächsten Tag um die Mittagszeit wieder abholen. Wir bekamen antibiotische Augentropfen, die sie vier Mal am Tag bekommen sollte (eine Herausforderung für jeden, der berufstätig ist, aber wir haben es irgendwie geschafft), zusätzlich Atropin-Tropfen einmal am Tag, ein Antibiotikum (diesmal zum Glück Baytril) und natürlich Schmerzmittel.
Ob die OP auf Dauer den gewünschten Erfolg bringen würde, würden erst die nächsten Tage zeigen. Chelsea sollte sich möglichst wenig kratzen (leichter gesagt als getan) und durfte keinen Kontakt zu anderen Tieren haben – musste also von Nicky getrennt gehalten werden. Die folgenden 10 Tage waren für alle Beteiligten eine Belastungsprobe.

Aber irgendwie gingen sie vorüber. Nachdem Chelsea in der Zeit der dauernden Behandlungen wieder eine sehr starke Kopfschiefhaltung entwickelte, begann ich zusätzlich noch eine weitere Behandlungsrunde mit Panacur.
Die ersten Tage kratzte sich Chelsea noch relativ wenig, aber irgendwann war dann die Naht, mit der das Auge zum Schutz halb zugenäht war, doch aufgekratzt. Das hatte aber auch den Vorteil, dass ich mich beim Eintropfen des Auges jetzt etwas leichter tat. Für mich als Laien machte das Augen einen guten Eindruck, trotzdem fieberte ich der Kontrolluntersuchung entgegen.
Sie waren sehr zufrieden. Chelsea wurde von allen Seiten bestaunt und der Heilungsfortschritt gelobt. Chelsea war somit das erste Meerschweinchen, bei dem dieser Eingriff mit Erfolg durchgeführt werden konnte.
Sie durfte jetzt auch wieder zu Nicky, was beide sehr freute … und bei uns kehrte langsam wieder ein bisschen Normalität ein. Chelsea zeigte zu dieser Zeit eine fast ganz normale Kopfhaltung. Ihr Verhalten normalisierte sich langsam wieder. Sie war zwar noch immer eine heikle Fresserin, nahm aber dann auch wieder etwas Gewicht zu.

Und wie ging es weiter?
Chelsea steht unter laufender Beobachtung. Immer wenn sie ein bisschen anders dreinschaut als am Vortag oder weniger brav frisst, schaltet meine Aufmerksamkeit auf Alarmstufe.
Zum Glück hat sich Chelseas Verdauung im Laufe der Monate wieder ganz normalisiert. Nachdem EC durch Stress verstärkt werden kann, bemühe ich mich bei ihrer Haltung, Stress möglichst zu vermeiden.
Es gibt bessere Tage und es gibt weniger gute Tage, aber unterm Strich ist sie wieder ein ganz normales Meerschweinchen-Weibchen, das zwar schon viel mitgemacht hat, aber hoffentlich noch viel Zeit vor sich hat, um das Leben auch zu genießen. Sie hat im Laufe des Winters auch schon sehr brav zugenommen, sodass sie um ihren 1. Geburtstag herum 1 kg auf die Waage brachte.